E-MailWeiterleiten
LinkedInLinkedIn

Urteil Versicherungsgericht (SG)

Zusammenfassung des Urteils IV 2016/226: Versicherungsgericht

Die Beschwerdeführerin hat seit Juni 1996 Leistungen der Invalidenversicherung bezogen aufgrund einer rechtsseitigen Hemiparese. Nach verschiedenen ärztlichen Berichten und Verlängerungen der Kostengutsprache für Therapien wurde sie zur Hauswirtschaftspraktikerin ausgebildet. Trotz guter Leistungen wurde ihr eine halbe Rente zugesprochen. Die Beschwerdeführerin forderte eine Dreiviertelsrente, da sie mit einer Ausbildung im Pflegebereich bessere Entwicklungsmöglichkeiten gesehen hätte. Das Gericht entschied, dass sie ab August 2015 Anspruch auf eine Dreiviertelsrente hat. Die Gerichtskosten von 600 Franken trägt die unterliegende Beschwerdegegnerin. Der Richter Ralph Jöhl entschied über den Fall.

Urteilsdetails des Kantongerichts IV 2016/226

Kanton:SG
Fallnummer:IV 2016/226
Instanz:Versicherungsgericht
Abteilung:IV - Invalidenversicherung
Versicherungsgericht Entscheid IV 2016/226 vom 18.12.2017 (SG)
Datum:18.12.2017
Rechtskraft:-
Leitsatz/Stichwort:Entscheid Art. 16 IVG. Art. 17 IVG. Art. 26 Abs. 1 IVV. Frühinvalidität. Eingliederungsmöglichkeiten nach einer möglicherweise ungeeigneten erstmaligen beruflichen Ausbildung. Bemessung des Valideneinkommens einer frühinvaliden Person (Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 18. Dezember 2017, IV 2016/226).
Schlagwörter : Ausbildung; IV-act; Eingliederung; Mitteilung; Franken; Verfügung; Rente; Beruf; Leistung; IV-Stelle; Prozent; Bereich; Massnahme; Hauswirtschaft; Massnahmen; Hauswirtschaftspraktikerin; „Obvita“; Arbeit; Kinder; Valideneinkommen; Sinne; Leistungsfähigkeit; Grundsatz; ämlich
Rechtsnorm:Art. 16 ATSG ;Art. 53 ATSG ;
Referenz BGE:-
Kommentar:
-

Entscheid des Kantongerichts IV 2016/226

Entscheid vom 18. Dezember 2017

Besetzung

Präsident Ralph Jöhl, Versicherungsrichterinnen Monika Gehrer-Hug und Karin HuberStuderus; Gerichtsschreiber Tobias Bolt

Geschäftsnr.

IV 2016/226

Parteien

A. ,

Beschwerdeführerin,

vertreten durch Advokat lic. iur. Martin Boltshauser,

c/o Procap Schweiz, Frohburgstrasse 4, Postfach, 4601 Olten, gegen

IV-Stelle des Kantons St. Gallen, Postfach 368, 9016 St. Gallen,

Beschwerdegegnerin,

Gegenstand

IV-Leistungen Sachverhalt A.

    1. A. wurde im Juni 1996 zum Bezug von Leistungen der Invalidenversicherung angemeldet (IV-act. 1). Die Kinderärztin Dr. med. B. berichtete im August 1996 (IVact. 2), die Versicherte leide an einer Hemiparese rechts. Dabei handle es sich um ein Geburtsgebrechen im Sinne der Ziff. 390 Anh. GgV. Mit einer Verfügung vom 22. Oktober 1996 teilte die IV-Stelle den Eltern der Versicherten mit, dass sie die im Zeitraum vom 19. Dezember 1995 bis zum 31. Dezember 2000 anfallenden Kosten für die zur Behandlung des Geburtsgebrechens Ziff. 390 Anh. GgV notwendigen medizinischen Massnahmen vergüten werde (IV-act. 4). Im Dezember 2000 berichtete Dr. med. C. vom Ostschweizer Kinderspital (IV-act. 14), die Versicherte werde wegen der rechtsseitigen spastischen beinbetonten Hemiparese und wegen eines leichten allgemeinen Entwicklungsrückstandes weiterhin mittels einer Physiound einer Ergotherapie behandelt. Deshalb werde die Verlängerung der Kostengutsprache vom

      22. Oktober 1996 beantragt. Mit einer Verfügung vom 5. Februar 2001 verlängerte die IV-Stelle ihre Kostengutsprache für die Zeit bis zum 31. Dezember 2005 (IV-act. 16). Im Februar 2004 berichtete Dr. med. D. vom Ostschweizer Kinderspital (IV-act. 32), zwischenzeitlich sei eine Lernbehinderung bei einem dissoziierten Leistungsprofil festgestellt worden. Die Versicherte müsse deshalb auf einem Kleinklassenniveau unterrichtet werden, weshalb sie sich seit August 2002 in einer Einführungsklasse befinde. Im Januar 2006 teilte Dr. med. E. vom Ostschweizer Kinderspital mit (IVact. 58), dass sich die Ver¬sicherte weiterhin in einer Physiotherapie sowie in einer Ergotherapie befinde und dass sie weiterhin in einer Kleinklasse unterrichtet werde. Sie leide an einer Lernbehinderung mit einem dissoziierten Leistungsprofil und an einer

      spastischen Hemiplegie rechts. Mit einer Verfügung vom 8. Februar 2006 verlängerte die IV-Stelle ihre Kostengutsprache für die Zeit bis zum 31. Juli 2015 (IV-act. 61).

    2. Im April 2010 beantragten die Eltern der Versicherten berufliche Eingliederungsmassnahmen (IV-act. 86). Ein Heilpädagoge des heilpädagogischen Beratungsund Förderdienstes hielt am 27. Januar 2011 fest (IV-act. 113), die Ergebnisse von mehreren Tests hätten Stärken im sprachlichen Ausdruck und im Sprachverständnis gezeigt. Die Interessen der Versicherten lägen im sozialen, im kreativ-gestalterischen und im unternehmerischen Bereich. Im mathematischen Bereich, bezüglich des Tempos bei der Erledigung einer Aufgabe sowie hinsichtlich der kurzund der langfristigen Konzentration bestehe noch ein Entwicklungspotential. Die Versicherte habe wenig Interesse in der praktischen und in der integrativ-verwaltenden Ausrichtung gezeigt. Die schulischen Leistungen entsprächen den Anforderungen für eine eidgenössische Berufsausbildung mit einem Attest. Da die Versicherte noch viel Begleitung benötige, sei eine Ausbildung im geschützten Bereich zu empfehlen. In einem Triageprotokoll vom 25. Mai 2011 notierte eine Sachbearbeiterin der IV-Stelle

      (IV-act. 111), die Versicherte habe den Wunsch nach einer Ausbildung zur Fachfrau Kinderbetreuung geäussert. Ob sie in der Lage sei, diese Ausbildung zu absolvieren, sei fraglich. Eine Attestausbildung gebe es in diesem Bereich nicht. Die zuständige Berufsberaterin wies am 21. Juni 2011 darauf hin, dass sie die Ausbildung der Versicherten zur Fachfrau in der Fachrichtung Kinder nicht unterstütze (IV-act. 115). Im September 2011 teilte das Ostschweizer Kinderspital mit, dass sich die Versicherte neu in einer Psychotherapie befinde, die in einem Zusammenhang zum Geburtsgebrechen Ziff. 390 Anh. GgV stehe (IV-act. 118). Am 13. Oktober 2011 berichtete Dr. E. (IVact. 120), die Versicherte habe wegen der Halbseitenlähmung und der Spastizität Zurückweisung und Ablehnung durch die Peer-Gruppe und die Schule erfahren. Es bestehe eine emotionale Gefährdungssituation; die Versicherte könnte sich zurückziehen unddepressiv werden. Dadurch sei die berufliche Eingliederung akut gefährdet. Am 8. No¬vember 2011 erteilte die IV-Stelle eine Kostengutsprache für eine Psychotherapie (IV-act. 122). Im November und im Dezember 2011 befand sich die Versicherte für je eine Woche zur Abklärung der Berufswahl im „Brüggli“ Romanshorn. Dieses berichtete anschliessend (IV-act. 130), die Versicherte erfülle die Anforderungen für die Attest-Aus¬bildung zur Büroassistentin nicht, weshalb eine entsprechende Ausbildung nicht empfohlen werden könne. Die Voraussetzungen für eine praktische

      Ausbildung zur Restaura¬tionsangestellten seien dagegen knapp gegeben. Trotzdem sei eher eine Ausbildung in einem Bereich zu empfehlen, in dem die Versicherte ihre sprachliche Begabung weiter ausbauen könne. Nachdem die Versicherte eine weitere

      „Schnupperlehre“ im Bereich der Betreuung von betagten Menschen (bei der „Obvita“) absolviert und erklärt hatte, dass ihr diese Tätigkeit zugesagt habe, notierte die Berufsberaterin am 6. August 2012 (IV-act. 138), bei der vorliegenden Kombination aus gesundheitlichen Einschränkungen sei eine Prognose hinsichtlich der Entwicklung der Leistungsfähigkeit für einen bestimmten Beruf sehr erschwert. Vielfach seien in einer solchen Situation die Motivation und die Freude an einer Tätigkeit ausschlaggebend. Deshalb erachte sie hier ein Vorlehrjahr im Beruf der Assistentin Gesundheit und Soziales als die passendste Massnahme. Mit einer Mitteilung vom 3. September 2012 sprach die IV-Stelle der Versicherten die Vergütung der Mehrkosten der erstmaligen beruflichen Ausbildung in der Form eines Vorlehrjahres zur Assistentin Gesundheit und Soziales bei der „Obvita“ im Zeitraum vom 13. August 2012 bis zum 12. August 2013 zu (IV-act. 141).

    3. Im März 2013 berichtete die „Obvita“ (IV-act. 152), es habe sich gezeigt, dass eine Ausbildung im Pflegebereich nicht möglich sei. Seit dem 25. Februar 2013 absolviere die Versicherte deshalb nun ein Praktikum im Bereich Hauswirtschaft. Sie zeige sich sehr interessiert und leiste einen guten Einsatz. Die „Obvita“ könne ihr deshalb eine Lehrstelle zur Hauswirtschaftspraktikerin mit einem eidgenössischen Berufsausbildungsattest mit Start im August 2013 anbieten. Mit einer Mitteilung vom

      29. August 2013 gewährte die IV-Stelle der Versicherten eine Kostengutsprache für die Mehrkosten der erstmaligen beruf¬lichen Ausbildung zur Hauswirtschaftspraktikerin bei der „Obvita“ im Zeitraum vom 12. August 2013 bis zum 11. August 2015 (IV-act. 175). Im Schlussbericht hielt die „Obvita“ fest (IV-act. 205 f.), die Versicherte habe den Ausbildungsstand der Attestausbildung erreicht. Sie könne alle geforderten Tätigkeiten ausführen. Das Arbeitstempo liege insgesamt bei etwa 50 Prozent. Am 15. Juni 2015 wurde der Versicherten das eidgenössische Berufsattest erteilt (IV-act. 207). Am 17. Juni 2015 konnte die Versicherte einen befristeten Arbeitsvertrag für die Zeit bis Ende November 2015 unterzeichnen, mit dem sie als Praktikantin Verpflegung/Dienste bei einem Bruttogehalt von 1'200 Franken pro Monat angestellt wurde (IV-act. 208). Am 25. September 2015 teilte der Vorgesetzte der Versicherten mit (IV-act. 212), dass die Versicherte ihre Aufgaben gut erledige. Die Leistung sei schwer bezifferbar; sie liege

      insgesamt wohl bei etwa 70 Prozent. Angesichts der Persönlichkeit, des Verhaltens und der Einstellung der Versicherten zur Arbeit würde er sie sofort als Hauswirtschaftspraktikerin einstellen. Die Eingliederungsverantwortliche der IV-Stelle notierte am 25. September 2015 (IV-act. 213), der branchenübliche Einstiegslohn einer Hauswirtschaftspraktikerin liege bei etwa 3'800 Franken pro Monat. Die Ver¬sicherte werde angesichts ihrer Leistungsfähigkeit von 50-60 Prozent einen Lohn von etwa 1'900 bis 2'280 Franken erzielen können. Mit einer Mitteilung vom 4. November 2015 schloss die IV-Stelle die berufliche Eingliederung ab (IV-act. 215).

    4. Am 23. Dezember 2015 berichtete Dr. med. F. (IV-act. 217), die Versicherte könne Tätigkeiten ohne schwere körperliche Belastungen mit einer Leistung von 50 Prozent verrichten. Für weitere Berufsmöglichkeiten seien die Fähigkeiten der Versicherten im Bereich der Gästebetreuung und im Umgang mit älteren Menschen besonders hervorzuheben. Am 25. Januar 2016 notierte Dr. med. G. vom IVinternen regionalen ärztlichen Dienst (RAD), der Versicherten sei für die erlernte Tätigkeit als Hauswirtschaftspraktikerin eine Arbeitsfähigkeit von 50 Prozent zu attestieren (IV-act. 218). Die IV-Stelle verglich in der Folge ein Valideneinkommen von 49'400 Franken (= 13 × 3'800 Franken) mit einem Invalideneinkommen von 24'700 Franken (= 49'400 Franken ÷ 2), was wenig über¬raschend einen Invaliditätsgrad von 50 Prozent ergab (IV-act. 219). Mit einem Vorbescheid vom 23. Februar 2016 teilte sie der Versicherten mit, dass sie die Zusprache einer halben Rente ab dem 1. August 2015 vorsehe (IV-act. 221). Dagegen liess die nun ver¬tretene Versicherte am 8. April 2016 einwenden (IV-act. 225), mit einer Ausbildung im Pflegebereich hätte sie bessere Entwicklungsmöglichkeiten bezüglich Lohnerhöhungen und Weiterbildungen. Sie sei eine Frühinvalide. Ihr Valideneinkommen belaufe sich deshalb ab August 2015 auf 57'750 Franken und ab August 2016 auf 66'000 Franken, weshalb sie einen Anspruch auf eine Dreiviertelsrente habe. Mit einer Verfügung vom 8. Juni 2016 sprach die IVStelle der Versicherten für die Zeit ab dem 1. August 2015 eine halbe (ausserordentliche) Rente zu (IV-act. 230). Bezugnehmend auf die Eingabe der Versicherten vom 8. April 2016 führte sie aus, der Art. 26 IVV sei nicht anwendbar, weil die Versicherte eine zweijährige Attestausbildung erfolgreich abgeschlossen habe.

B.

    1. Am 29. Juni 2016 liess die Versicherte (nachfolgend: die Beschwerdeführerin) eine Beschwerde gegen die Verfügung vom 8. Juni 2016 erheben (act. G 1). Ihr Rechtsver¬treter beantragte die Rückweisung der Sache zur Prüfung von weiteren beruflichen Massnahmen an die IV-Stelle (nachfolgend: die Beschwerdegegnerin) und eventualiter die Zusprache einer Dreiviertelsrente. Zur Begründung führte er an, die Beschwerdegegnerin hätte angesichts des mehrfach geäusserten Wunsches der Beschwerdeführerin, eine Tätigkeit mit mehr sozialen Kontakten auszuüben, eine weitere berufliche Eingliederung prüfen müssen. Die absolvierte erstmalige berufliche Ausbildung sei offensichtlich nicht zielgerichtet gewesen. Die angefochtene Verfügung verletze deshalb den Grundsatz „Eingliederung vor Rente“. Falls das Gericht zum Schluss gelange, dass keine weiteren beruflichen Massnahmen durchgeführt werden müssten, sei das Valideneinkommen zu korrigieren. Entgegen der Ansicht der Beschwerdegegnerin liege nämlich ein Anwendungsfall des Art. 26 IVV vor.

    2. Die Beschwerdegegnerin beantragte am 27. Juli 2016 die Abweisung der Beschwerde (act. G 4). Zur Begründung führte sie aus, nachdem die Beschwerdeführerin eine erstmalige berufliche Ausbildung absolviert habe, könne gar kein Anwendungsfall des Art. 26 IVV mehr vorliegen. Gemäss dem Schlussbericht der

      „Obvita“ und laut dem Arztbericht von Dr. F. sei die Beschwerdeführerin zu 50 Prozent arbeitsfähig. Der Invaliditätsgrad betrage folglich 50 Prozent. Die Wahl der Ausbildung sei entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin zielgerichtet gewesen. Ein Pflegeberuf wäre angesichts der körperlichen Belastungen ungeeignet. Die Einschränkungen der Beschwerdeführerin hätten die Berufswahl stark erschwert. Eine weitere berufliche Eingliederung sei nicht erforderlich. Zudem sei es „äusserst fragwürdig“, dass die Beschwerdeführerin jetzt berufliche Massnahmen beantrage, nachdem sie die Mitteilung vom 4. November 2015 akzeptiert habe.

    3. Die Beschwerdeführerin liess am 16. November 2016 an ihren Anträgen festhalten

(act. G 10). Die Beschwerdegegnerin verzichtete auf eine Duplik (act. G 12).

Erwägungen

1.

Mit der angefochtenen Verfügung vom 8. Juni 2016 hat die Beschwerdegegnerin der Beschwerdeführerin eine Rente der Invalidenversicherung zugesprochen. Der durch diese Verfügung definierte Streitgegenstand beschränkt sich folglich auf den Rentenanspruch, was bedeutet, dass er sich grundsätzlich nicht auch auf weitere Ansprüche gegenüber der Invalidenversicherung, namentlich auf eine berufliche Eingliederung erstrecken kann. Nun gilt im Sozialversicherungsrecht aber der allgemeine Grundsatz „Eingliederung vor Rente“ (vgl. etwa UELI KIESER, ATSGKommentar, 3. Aufl. 2015, Vorbemerkungen N 81 ff., mit Hinweisen), laut dem die Zusprache einer Rente die Unmöglichkeit voraussetzt, die rentenspezifische Invalidität mit einer (medizinischen beruflichen) Eingliederung (weiter) zu minimieren. Eine Rentenverfügung, die in Verletzung dieses Grundsatzes ergangen ist, ist rechtswidrig (vgl. dazu auch Art. 28 Abs. 1 lit. a IVG). In einem Beschwerdeverfahren muss deshalb eine solche Verfügung aufgehoben werden und die Verwaltung muss verpflichtet werden, die Eingliederung abzuschliessen und erst danach über den Rentenanspruch zu verfügen. In einer solchen Konstellation kann deshalb ein Eingliederungsanspruch respektive eine Eingliederungspflicht zum Streitgegenstand in einem Beschwerdeverfahren gehören, das an sich nur eine Rentenverfügung zum Anfechtungsgegenstand hat. Wenn allerdings eine IV-Stelle bereits zu einem früheren Zeitpunkt formell rechtskräftig über die berufliche Eingliederung verfügt hat, dann kann bei der Beurteilung einer Rentenverfügung keine vorgängige Prüfung des Grundsatzes

„Eingliederung vor Rente“ mehr erfolgen, denn andernfalls würde die formell rechtskräftige Eingliederungsverfügung im Ergebnis gerichtlich beurteilt, was offensichtlich unzulässig wäre.

2.

    1. Die Beschwerdegegnerin vertritt offenbar die Auffassung, die Mitteilung vom 4. November 2015 stehe der Überprüfung des Grundsatzes „Eingliederung vor Rente“ ent-gegen, denn sie hat geltend gemacht, es sei „äusserst fragwürdig“, dass die Beschwerdeführerin diese Mitteilung akzeptiert (bzw. keine anfechtbare Verfügung verlangt) habe, aber nun geltend mache, die angefochtene Verfügung verletze den Grundsatz „Eingliederung vor Rente“. Tatsächlich hat die Beschwerdegegnerin bereits verbindlich über die berufliche Eingliederung entschieden. Das ist aber nicht am 4. November 2015, sondern bereits deutlich früher, nämlich am 29. August 2013

      geschehen. An jenem Tag hat die Beschwerdegegnerin nämlich eine Mitteilung erlassen, mit der sie der Beschwerdeführerin eine erstmalige berufliche Ausbildung zur Hauswirtschaftspraktikerin zugesprochen hat. Nicht die Mitteilung vom 4. November 2015, sondern jene vom 29. August 2013 hat also die weiteren Möglichkeiten für eine berufliche Eingliederung wesentlich eingeschränkt. Eine zweite erstmalige berufliche Ausbildung kann nun nämlich nicht mehr in Frage kommen, weil eine versicherte Person nur einmal erstmalig ausgebildet werden kann und weil der Abschluss einer solchen Ausbildung die Erfüllung der Anspruchs¬voraussetzungen des Art. 16 IVG verunmöglicht. Auch eine Umschulung kommt nicht in Betracht, denn eine Umschulung kann nicht dazu „missbraucht“ werden, das Ergebnis einer suboptimalen erstmaligen beruflichen Ausbildung durch ein besseres Ergebnis zu ersetzen. Das wäre vom Sinn und Zweck des Art. 17 IVG offensichtlich nicht gedeckt. Die verbindliche Mitteilung vom 29. August 2013 schliesst folglich die Prüfung eines Anspruchs auf eine erstmalige berufliche Ausbildung auf eine Umschulung zum Vorneherein aus.

    2. Die Mitteilung vom 4. November 2015 bezieht sich in erster Linie auf die

      abgeschlossene erstmalige berufliche Ausbildung. Entsprechend lautet ihr Betreff:

      „Berufliche Massnahmen abgeschlossen“. Über die erstmalige berufliche Ausbildung hat die Beschwerdegegnerin allerdings nicht erneut verfügen respektive eine weitere Mitteilung im Sinne des Art. 58 IVG erlassen dürfen. Angesichts des Umstandes, dass die Beschwerdeführerin ihre erstmalige berufliche Ausbildung planmässig erfolgreich abgeschlossen hatte, kann gar kein Bedarf nach einer erneuten Verfügung beziehungsweise Mitteilung bestanden haben. Die „Mitteilung“ vom 4. November 2015 besteht folglich nur in einer Information betreffend den Abschluss der erstmaligen beruflichen Ausbildung. Eine solche Information ist nicht verfügungsfähig, weshalb darüber auch keine „echte“ Mitteilung erlassen werden kann, die verbindlich werden könnte (vgl. dazu den Entscheid IV 2017/179 des St. Galler Versicherungsgerichtes vom 31. Oktober 2017, E. 1). Die „Mitteilung“ vom 4. November 2015 hat zwar den zusätzlichen Hinweis enthalten, dass angesichts des damals laufenden Praktikums und des vorgesehenen Sprachaufenthaltes weitere beruf¬liche Massnahmen nicht angezeigt seien, worin eine (verfügungsund damit auch mitteilungsfähige) Verweigerung von weiteren Leistungen erblickt werden könnte. Ein entsprechender Verfügungswille der Beschwerdegegnerin ist aber nicht erkennbar. Der Betreff der

      „Mitteilung“ („berufliche Massnahmen abgeschlossen“) enthält nämlich keinen Hinweis

      auf eine solche Anordnung. Im Übrigen fehlt der „Mitteilung“ ein erkennbares Dispositiv. Schliesslich erwecken die (kurzen) Ausführungen den Eindruck, die Beschwerdegegnerin habe angesichts der damals aktuellen Situation gar nicht erst vertieft geprüft, ob nach dem Abschluss der erstmaligen beruflichen Ausbildung weitere berufliche Massnahmen angezeigt seien. Wenn die Beschwerdegegnerin tatsächlich einen Anspruch der Beschwerdeführerin auf weitere berufliche Massnahmen verbindlich hätte verneinen wollen, müsste die „Mitteilung“ vom 4. November 2015 diesbezüglich als irreführend qualifiziert werden, weil sie eine solche Abweisung gesamthaft nicht hinreichend ersichtlich gemacht hätte. Vor diesem Hintergrund wäre es stossend, wenn die Beschwerdeführerin darauf behaftet würde, dass sie keine anfechtbare Verfügung verlangt und folglich die Verweigerung von weiteren beruflichen Massnahmen akzeptiert habe. Zusammenfassend kann die

      „Mitteilung“ vom 4. November 2015 also keine verfügungsrespektive mitteilungsfähige Anordnung enthalten, weshalb sie die Prüfung eines allfälligen Begehrens der Beschwerdeführerin um weitere berufliche Massnahmen nicht einschränken kann. Auch in diesem Beschwerdeverfahren kommt ihr folglich keine Bedeutung zu.

    3. Immerhin ist im Sinne eines obiter dictum die Frage aufzuwerfen, ob die Beschwerdeführerin mit einer anderen erstmaligen beruflichen Ausbildung nicht besser hätte ins Erwerbsleben eingegliedert werden können respektive ob sie damit nicht ein höheresInvalideneinkommen erzielen könnte. Freilich ist die Berufswahl erheblich erschwert gewesen, weil die Lernbehinderung mit einem dissoziativen Leistungsprofil und die Schwächen im mathematischen Bereich den erfolgreichen Abschluss des schulischen Teils mehrerer in Frage kommender Ausbildungen verunmöglicht haben und weil die körper¬lichen Beeinträchtigungen betreffend die rechte Körperhälfte jenen Ausbildungen ent¬gegen gestanden haben, die einen Kräfteeinsatz der rechten Extremitäten erfordert haben. Das Spektrum der in Frage kommenden Ausbildungen ist also durch die Kombination dieser Einschränkungen wesentlich reduziert gewesen. Im Rahmen der Berufsberatung hat sich denn auch gezeigt, dass eine Tätigkeit weder im Bereich der Kinderbetreuung noch im kaufmännischen Bereich, im Service im pflegerischen Bereich möglich gewesen ist. Mit der Ausbildung zur Hauswirtschaftspraktikerin hat die Beschwerdeführerin zwar einen Beruf erlernen können, der ihren körperlichen und geistigen Fähigkeiten entspricht. Durch die

ausserordentlich positive Rückmeldung ihres Vorgesetzten im Rahmen des ersten Praktikums ist zusätzlich belegt, dass sie als Hauswirtschaftspraktikerin eine gute Arbeitsleistung erbringen kann. Aber die Beschwerdeführerin kann als Hauswirtschaftspraktikerin weder ihre hohe Sozialkompetenz noch ihre sprachliche Begabung nutzen. Mit einer anderen erstmaligen beruflichen Ausbildung hätte sie also möglicherweise in die Lage versetzt werden können, ein höheres Invalideneinkommen zu erzielen. Die Mitteilung vom 29. August 2013 könnte folglich zweifellos unrichtig im Sinne des Art. 53 Abs. 2 ATSG sein. Mittels einer eingehenden berufsberaterischen Abklärung könnte die Beschwerdegegnerin prüfen, ob eine solche zweifellose Unrichtigkeit vorliegt. Gegebenenfalls könnte sie in der Folge wiedererwägungsweise eine (erneute) erstmalige berufliche Ausbildung in einem anderen Beruf in die Wege leiten, mit der die Beschwerdeführerin in die Lage versetzt werden könnte, ein höheres Invalideneinkommen zu erzielen. Das Versicherungsgericht kann die Beschwerdegegnerin natürlich nicht verpflichten, ein entsprechendes Wiedererwägungsverfahren zu eröffnen. In diesem Beschwerdeverfahren bleibt deshalb nichts anderes übrig, als im Sinne eines obiter dictum auf diese Wiedererwägungsmöglichkeit hinzuweisen und im Übrigen angesichts der verbindlichen Mitteilung vom 29. August 2013 die berufliche Eingliederung als im Sinne des Art. 28 Abs. 1 lit. a IVG abgeschlossen zu betrachten. Zusammenfassend gehört die berufliche Eingliederung folglich nicht zum Gegenstand dieses Beschwerdeverfahrens.

3.

    1. Für die Bemessung der Invalidität ist gemäss dem Art. 16 ATSG das Erwerbseinkommen, das die Beschwerdeführerin im Zeitpunkt der Eröffnung der angefochtenen Verfügung durch eine ihr zumutbare Tätigkeit bei einer ausgeglichenen Arbeitsmarktlage hätte erzielen können, in Beziehung zu jenem Erwerbseinkommen zu setzen, das sie hätte erzielen können, wenn sie nicht invalid gewesen wäre. Diese Bemessungsmethode beruht auf einem Vergleich von zwei hypothetischen Berufskarrieren, nämlich der Validen¬karriere und der Invalidenkarriere. Weil die Beschwerdeführerin gar nie eine Validen¬karriere hat einschlagen können, da ihre Erwerbsfähigkeit von Beginn weg durch ein Geburtsgebrechen beeinträchtigt gewesen ist, fehlt jeglicher Anhaltspunkt für eine plausible Bestimmung der Validenkarriere. An

      sich würde das die Definition einer Validenkarriere und damit auch die Ermittlung eines entsprechenden Valideneinkommens verunmög¬lichen, was zur Folge hätte, dass das Rentenbegehren zufolge einer (im weitesten Sinn verstandenen) objektiven Beweislosigkeit hinsichtlich eines massgebenden Sachverhaltselementes abgewiesen werden müsste. Dieses Ergebnis wäre aber stossend, weil es bedeuten würde, dass sogenannte Frühinvalide nie einen Rentenanspruch haben könnten. Der Verordnungsgeber hat dieses Beweisproblem gelöst, indem er im Art. 26 Abs. 1 IVV eine Fiktion aufgestellt hat: Laut dem Art. 26 Abs. 1 IVV ist davon auszugehen, dass die versicherte Person abhängig von ihrem Alter einen bestimmten Prozentsatz des jährlich aktualisierten Medianwertes gemäss der Schweizerischen Lohnstrukturerhebung als Valideneinkommen erzielt hätte. Da diese Verordnungsbestimmung ein eminentes Beweisproblem löst und im Einklang mit dem gesetzlichen System der Invaliditätsbemessung steht, ist sie durch die Vollzugskompetenz des Bundesrates (Art. 86 Abs. 2 IVG) ge¬deckt und folglich gesetzmässig. Nun vertritt die Beschwerdegegnerin allerdings die Auffassung, hier liege gar kein Anwendungsfall des Art. 26 Abs. 1 IVV (mehr) vor, weil die Beschwerdeführerin mit dem Abschluss der Ausbildung zur Hauswirtschaftspraktikerin

      „zureichende berufliche Kenntnisse“ erworben habe. Dabei muss sie offenbar von einem falschen Verständnis des Begriffs „zureichende berufliche Kenntnisse“ ausgegangen sein, denn dieser kann sich angesichts des oben dargestellten Sinn und Zwecks des Art. 26 Abs. 1 IVV nur darauf beziehen, was die versicherte Person bei einer uneingeschränkten Validität hätte tun können. Welche Ausbildung die Beschwerdeführerin absolviert hätte, wenn sie gesund gewesen wäre, kann nicht gesagt werden. Die von ihr letztlich absol¬vierte Ausbildung hat es ihr jedenfalls nur ermöglicht, ein Jahreseinkommen von 49'400 Franken zu erzielen, was weniger als der Zentralwert der Hilfsarbeiterinnenlöhne (gut 51'000 Franken) und weitaus weniger als das vom Art. 26 Abs. 1 IVV fingierte Valideneinkommen (vgl. unten) ist. Ganz offensichtlich lässt die effektiv verfolgte Invalidenkarriere also keine Rückschlüsse auf die Validenkarriere zu. Entgegen der Ansicht der Beschwerde¬gegnerin hat die Beschwerdeführerin also keine „zureichenden beruflichen Kenntnisse“ erlangt, weshalb nach wie vor ein Anwendungsfall des Art. 26 Abs. 1 IVV vorliegt. Der massgebende Zentralwert hat sich im Jahr 2015 auf 82'500 Franken belaufen. Die Beschwerdeführerin hat im Juli 2015 ihr 25. Altersjahr vollendet, weshalb sich ihr

      fiktives Valideneinkommen ab August 2015 (Ende der Taggeldzahlungen) auf 80 Prozent von 82'500 Franken, also auf 66'000 Franken belaufen hat.

    2. Die zumutbare Invalidenkarriere besteht in einer Tätigkeit als Hauswirtschaftspraktikerin. Bei einer vollen Leistungsfähigkeit hätte die Beschwerdeführerin mit dieser Tätigkeit ein Jahreseinkommen von 49'400 Franken erzielen können. Gemäss dem Schlussbericht der „Obvita“ und der vom Hausarzt Dr. F. abgegebenen Arbeitsfähigkeitsschätzung hat die Leistungsfähigkeit der Beschwerdeführerin aber nur 50 Prozent betragen. Der Vorgesetzte im ersten Praktikum hat zwar eine höhere Leistungsfähigkeit von 70 Prozent attestiert, aber er hat gleichzeitig darauf hingewiesen, dass diese Schätzung nur sehr vage sei. Zudem hat er nur auf einen relativ kurzen Beobachtungszeitraum zurückblicken können. Die

„Obvita“ hatte die Leistungsfähigkeit der Beschwerdeführerin dagegen während mehreren Jahren intensiv beobachten und folglich eine wesentlich zuverlässigere Arbeitsfähigkeitsschätzung abgeben können. Zudem verfügt die „Obvita“ diesbezüglich über eine spezifische Erfahrung, da sie seit Jahren Ausbildungen im geschützten Rahmen anbietet. Ihre Arbeitsfähigkeitsschätzung ist folglich als überwiegend wahrscheinlich richtig zu qualifizieren, womit feststeht, dass die Beschwerdeführerin im Zeitpunkt der Eröffnung der angefochtenen Verfügung zumutbarerweise ein Invalideneinkommen von 24'700 Franken hätte erzielen können. Im Verhältnis zum Valideneinkommen von 66'000 Franken ergibt sich ein Invaliditätsgrad von 62,58 Prozent.

4.

Die Beschwerdeführerin hat folglich ab dem Ende der Taggeldzahlungen, das heisst ab dem 1. August 2015 einen Anspruch auf eine Dreiviertelsrente der Invalidenversicherung. In Gutheissung der Beschwerde ist deshalb die angefochtene Verfügung aufzuheben und die Sache ist zur Festsetzung der Rentenbeträge an die Beschwerdegegnerin zurückzuweisen. Die Gerichtskosten von 600 Franken sind der unterliegenden Beschwerdegegnerin aufzuerlegen. Der Beschwerdeführerin wird der von ihr geleistete Kostenvorschuss von 600 Franken zurückerstattet. Die Beschwerdegegnerin hat der Beschwerdeführerin eine Parteientschädigung auszurichten. Diese ist angesichts des unterdurchschnittlichen Aktenumfangs und des

deshalb unterdurchschnittlichen erforderlichen Aufwandes für das Aktenstudium auf 3'000 Franken (einschliesslich Barauslagen und Mehrwertsteuer) festzusetzen.

Entscheid

im Zirkulationsverfahren gemäss Art. 39 VRP

1.

In Gutheissung der Beschwerde wird die angefochtene Verfügung vom 8. Juni 2016 aufgehoben und der Beschwerdeführerin wird mit Wirkung ab dem 1. August 2015 eine Dreiviertelsrente zugesprochen; die Sache wird zur Festsetzung der Rentenbeträge an die Beschwerdegegnerin zurückgewiesen.

2.

Die Beschwerdegegnerin hat die Gerichtskosten von Fr. 600.-zu bezahlen; der Beschwerdeführerin wird der von ihr geleistete Kostenvorschuss von Fr. 600.-zurückerstattet.

3.

Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin mit Fr. 3'000.-zu entschädigen.

Bitte beachten Sie, dass keinen Anspruch auf Aktualität/Richtigkeit/Formatierung und/oder Vollständigkeit besteht und somit jegliche Gewährleistung entfällt. Die Original-Entscheide können Sie unter dem jeweiligen Gericht bestellen oder entnehmen.

Hier geht es zurück zur Suchmaschine.